Rede zum Volkstrauertag 2017 – Fellingshausen

Erinnerung an den in Fellingshausen abgestürzten Piloten, Foto: Lindemann

Zu unserer Gedenkfeier am heutigen Tage heiße ich (Dr. Alfons Lindemann) Sie alle willkommen.
Unser Ortsvorsteher Dieter Synowszik hat mich gebeten, Grüße auszurichten und als sein Stellvertreter die diesjährige Rede zum Volkstrauertag zu halten.

Wie sie von Brunnenfest wissen, bin ich nicht der geborene Redner, eher ein Schreiber.
So habe ich mich an die Arbeit gemacht und geschrieben. Doch so ein Text lässt sich nicht leicht fassen, ständig verändert er sich mit jedem Lesen vor meinem inneren Auge.
Beim Vorlesen habe Sie also bitte Geduld und Nachsicht mit mir.

Zum Nachvollziehen, Mitnehmen und Weitergeben finden Sie hier vorn einige Exemplare des Textes ausgedruckt. (Zudem, das konnte ich 2017 noch nicht wissen, gibt es nun die Möglichkeit, die Gedanken hier im Biebertaler Bilderbogen zu erhalten und nachzulesen.)

Der Volkstrauertag

ist ein Tag der Erinnerung an die Kriegsopfer … und ein Gedenken an die Schrecken des Krieges … überall auf der Welt, …
aber auch ein Tag für die Lebenden, die „nie wieder Krieg, Hass und Verfolgung“ wollen, … nirgendwo!

So möchte ich die Tradition des Versöhnungsfestes aufgreifen, das sich in verschiedenen Formen im Judentum, Christentum und Islam erhalten hat und jeweils als höchster Feiertag gilt.

Bitte geben und halten Sie jetzt Ihren Nachbarn, als Zeichen des Friedens, die Hand.
Spüren Sie bitte nach, wie Sie meine Aufforderung spontan empfunden haben:         
als Einladung und Möglichkeit, der man folgen kann?
als Befehl, dem Gehorsam zu leisten ist?
als Unverschämtheit, der man Widerstand leisten muss?
Bitte spüren Sie auch nach, auf welcher Seite es Ihnen leichter gefallen ist, Ihre Hand zu reichen …
oder die angebotene Hand zu nehmen …
oder zu merken, dass die ausgestreckte Hand leer bleibt, z.B. wenn Sie am Ende der Reihe sitzen oder Ihr Nachbar keine körperliche Verbindung zu Ihnen aufnehmen wollte oder konnte.
Wie fühlt es sich an, sich so nahe zu kommen …
vielleicht mit jemand bisher Unbekanntem oder mit einem Bekannten auf eine neue Weise in Kontakt zu kommen …
oder eben leer auszugehen?

Ich bin überzeugt, im vertrauten Miteinander gibt es weniger Gegeneinander.

Wenn wir wieder mehr miteinander in Kontakt kommen und etwas miteinander tun und teilen, wird der Friede im Kleinen, die wohlwollende und gelassene Haltung im Alltag wieder Vertrauen ineinander wachsen lassen und die Chance auf den Frieden im Großen erhöhen.
Viele Projekte vom Schüleraustausch, über Praktika in anderen Ländern, gemeinschaftliche Kriegsgräberfürsorge, Städtepartnerschaften usw. sind gute Beispiele dafür.

Ich will einen Anfang machen und persönliches von mir mit Ihnen teilen:

Lange blieben mir persönlich die Fakten, auf die ich später eingehe, in den 50er und 60er Jahren des Vorjahrhunderts verschlossen. Man vermied es weitgehend, auch in der Schule, über die dunkle Zeit Deutschlands zu sprechen.
So blieb der Volkstrauertag für mich lange bedeutungslos.
Auch die Pflicht-Selbsterfahrung von 1½ Jahren Bundeswehr änderte daran nichts; machte mir jedoch die anschließende Kriegsdienstverweigerung  wichtig.
Noch dazu fühlte ich mich nach der Zeit als Soldat so leer, dass es zumindest das Gute nach sich zog, dass ich zu Lernen begann und viele neue Horizonte erschloss.
Ich suchte nach einem anderen, nicht verdinglichenden, nicht in Geld abgewogenen, weniger entfremdeten, menschlicheren Miteinander.
Ich kündigte meine Bankkarriere, wurde Arzt und Psychologe.
Heute höre ich mir in meiner Arbeit Lebensgeschichten an, suche zu verstehen, was die Menschen bewegt und erarbeite mit ihnen, wie sie von schädigenden Gedanken zu gesünderem und wohltuenderem Verhalten kommen.

Solches >Geschichten erzählen<, persönlich zu werden, schafft Anknüpfungspunkte, so dass Verbindungen entstehen können. Zudem wecken Aufgaben Neugierde und Forschergeist bringt neue Erkenntnisse:

Im Hauptteil der Rede berichte ich über Geschichte

da das Wissen darum unser heutiges Denken verständlicher macht und uns Gefahren für die Freiheit früher erkennen lässt:
Ursprünglich wurde seit 1923 in der Fastenzeit vor Ostern, auf Initiative des >Volksbunds deutscher Kriegsgräberfürsorge< ein >Volkstrauertag< gefeiert; als Ausdruck der Trauer um die Toten des Ersten Weltkriegs 1914-18.
Der Termin, jetzt am Ende des Kirchenjahres, also in der dunklen Jahreszeit, die mit dem scheinbaren Tod der Natur verbunden ist und gleichzeitig mit der Hoffnung auf Wiedergeburt im Frühjahr, wurde von den Gründervätern der Republik in Abgrenzung zum >Heldengedenktag< im Dritten Reich gewählt.
Denn die Umbenennung von >Volkstrauertag< in >Heldengedenktag< 1934 diente damals der psychologischen Einstimmung auf einen neuen Krieg. Ein neues „Vorbild“ wurde für diejenigen geschaffen, (Zitat: Adolf Hitler vom 10. 3. 1940) „die bereit waren, sich selbst aufzugeben, um der Gemeinschaft das Leben zu erhalten“.
So erinnerte der Termin 16. März des damaligen Staatsfeiertages denn auch an die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935.
Seit 1950 wird dieser >Volkstrauertag< auch in der Bundesrepublik als einer der „stillen Feiertage“ begangen; allerdings jetzt am letzten Sonntag vor dem Advent.

Entsprechend stieß 1956 in der jungen Bundesrepublik die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung;
ihre Abschaffung 2011 blieb dagegen relativ resonanzlos.
Überhaupt scheint das Thema Militär bei uns, inzwischen satten und friedensverwöhnten, Menschen wenig Beachtung zu finden.
Wir finden es eher lustig, wenn Mario Barth aufdeckt, dass Ursula von der Leyen 7700 Handtaschen und Umstandskleidung für Soldatinnen ausgibt oder für 200.000 Euro Pizzakartons zur Rekrutenwerbung drucken lässt.
Die 6,1 Mio. Euro Steuergelder für Youtube-Werbung, in denen die Bundeswehr als Arbeitgeber mit besten Aufstiegschancen (in den Himmel) geworben wird, sind dann schon nicht mehr lustig.
Kaum jemand regt sich noch auf über Deutschlands horrenden Waffenlieferungen – in 2016 fast 3 Milliarden Euro (eine Zahl mit 12 Nullen) – oder die Auslandseinsätze der Bundeswehr seit 1990.
Nach offizieller Lesart sind es „friedenserhaltende und friedenssichernde Maßnahmen außerhalb der Bundesrepublik“; faktisch jedoch sind es Einsätze in Kriegen, die seit den Weltkriegen nie mehr aufgehört haben.
Beständig sterben Menschen, weil die produzierten Waffen gebraucht und verbraucht werden müssen.
Von den weltweiten Beteuerungen „Nie wieder Krieg“, nach den ca. 50 Mio. Toten des zweiten Weltkrieges, ließ sich die Waffenlobby nicht überzeugen, sie verdienen und lassen sterben.

Im allgemeinen Bewusstsein scheinen der Kosovo, wie der nahe und ferne Osten oder Afrika weit weg …
ebenso wie die EU-Wirtschafts-Subventionen, die die afrikanischen Bauern arbeitslos machen und hungern lassen.
Das änderte sich mit der Flüchtlingskrise 2015, als 1,1 Mio. Menschen zu uns kamen. 
Absehbar plötzlich standen afghanische, syrische und afrikanische Krisenflüchtlinge vor der eigenen Haustür und es werden – angesichts der drohenden Klima-Krise – mehr werden!

Das löste ambivalente und oft irrationale Gefühle aus:
einerseits zeigte sich eine Willkommenskultur, wie man das aus Zeiten der Grenzöffnung der Deutsch-Deutschen-Grenze 1989 kannte,
andererseits wurden Ängste ausgelöst:
vor dem Fremden, vor Wohlstandsverlust und vor anstehenden Veränderungen allgemein.

Schon in den 70er Jahren warnte der „Club of Rome“ vor den „Grenzen des Wachstums“ und spätestens seit den 1990er Jahren prägt die westliche Welt die Angst vor wirtschaftlichem Abschwung.
Immer deutlicher zeigt sich inzwischen, dass der Markt keine Grenzen setzt, dass Liberalisierung, Maschinenlogik und Effizienzsteigerung Sozialabbau, Armut und Unzufriedenheit bewirken.
Oft verdrängt, ist doch allen klar, dass es in einer endlichen Welt kein Wachstum gibt.
Werbewirksam wird uns da lediglich Umverteilung verkauft; obwohl die Wachstumsideologie einer Eskalationslogik folgt, also ein Selbstzerstörungsprogramm ist.

Leider baden dabei erst Generationen später die großen Folgen von Ausbeutung und Kolonialisation
aus. Absehbar plötzlich merkt man, dass man Geld nicht essen kann.
Dagobert Duck mit seinem Geldspeicher, als Sinnbild des  amerikanisch-westlichen Traums, ist bei genauem Hinschauen eine Zeitungsente.
Während wir als Einzelne immer weniger verstehen, wie die globalisierte Welt funktioniert; erleben viele ganz persönlich, wie die laufende Beschleunigung und Arbeitsverdichtung krank machen; wie Sinnleere und Beziehungsbrüche entstehen … und die Angst, abgehängt zu werden.
Gleichzeitig nehmen familiäre und örtliche Bindungen ab; persönliche Beziehungen schwinden und die Aufgaben werden von öffentlichen Institutionen „übernommen“.
Doch keine Kinderkrippe kann liebende Eltern ersetzen; Schule kann keine Erziehung leisten und schon gar kann sich kein kommerzielles Altenheim oder privatisiertes Krankenhaus liebevolle Zuwendung leisten … usw.

Zunehmend wird weniger Verantwortung übernommen;
„Sachzwänge“ schützen vor eigenem „schuldig werden“.
Dabei kann man aus Fehlern lernen und sich weiterentwickeln;
Fehlervermeidung, am besten „alternativlos“, schafft Stillstand.
So können wir beobachten, wie dabei Wertorientierungen verfallen.

Es steigt das subjektive Gefühl der Unsicherheit … und wird durch Medienberichte verkaufsfördernd geschürt.
Auch wenn z.B. objektiv, laut Bundeszentrale für politische Bildung, die Zahl der Straftaten 2016, im Vergleich zum Vorjahr, um 1,9 % zurückging.
In solchen Verhältnissen ist man chronisch gestresst, kann daher weniger klar denken und sehnt sich nach Übersichtlichkeit und Ordnung, nach Verstehbarkeit und einfachen Lösungen.
Und tatsächlich sind sie wieder da die national und engstirnig gesinnten, die Volksverhetzer, die sich im gleichen Atemzug als deren Retter inszenieren, die in einer komplexen Welt einfache Antworten anbieten, die logischerweise keine Lösung – außer Zerstörung – bringen können.

So schön es ist, wenn alles überall zu haben ist, doch heißt Globalisierung eben auch Entdifferenzierung und führt zu Identitätskrisen.
Damit haben wir uns selbst den idealen Nährboden für die neuen „Heilsverkünder“ bereitet, die sich inzwischen überall auf der Welt melden.
Ob USA, Polen, Ungarn, Türkei usw., überall fördern die Demagogen die Spaltung der Gesellschaften.

Spaltung ist, psychologisch gesehen, ein frühkindlicher, sehr unreifer Abwehrmechanismus, um die eigenen Vorstellungen von der Welt in Takt zu halten. Man macht dabei sozusagen ein Auge zu und lässt einen Teil der Welt aus dem eigenen Bewusstsein verschwinden; man vernichtet diesen Teil … was Ungutes ahnen lässt.
Auf dieser frühen Entwicklungsstufe gibt es nur „entweder-oder“, „gut oder böse“, „wir oder die“ …
so wie wir es immer auch in der Kriegsrhetorik klingt und in Firmen als Konkurrenzdenken zu hören ist. Dabei verweist das „die“ auf eine gefährliche Entmenschlichung der Anderen, die so zu Feinden definiert werden.
In solch naiv gedachter Welt muss man das Böse nur vernichten, damit das Gute übrig bleibt. …
bis dahin hat man jedoch so viel gemordet, dass man selbst zum Bösen geworden ist.

Aber um das zu erkennen, müsste man schon eine Entwicklungsstufe weiter sein und die Szene aus einer dritten Position beobachten können.
Diese Triangulierungs- und Reflektionsfähigkeit entwickelt sich allerdings erst ab dem 3.-4. Lebens- bzw. Entwicklungsjahr.
Erschreckenderweise wird dieser Reifegrad zunehmend seltener erreicht; viele bleiben im selbstbezüglichen „Selfie“-stadium hängen und widmen ihre Aufmerksamkeit oberflächlicher Selbstopitmierung.
Je unreifer die Erwachsenen, umso weniger können sie ihren Kinder helfen, sich weiter zu entwickeln. Entsprechende Klagen höre ich zunehmend aus Kindergärten und Schulen. 

Je erwachsener man in seiner Entwicklung wird, 
umso differenzierter stellt sich die Welt dar, 
umso mehr muss man lernen Komplexität und damit Unkontrollierbarkeit auszuhalten.

Kein Rückgriff auf frühere, also kindliche oder nationalistische Verhaltensmuster, wird eine brauchbare Antwort auf die komplexen Bedingungen in der Welt bieten.
Es wird keine separaten Lösungen mehr geben; viel zu sehr hat der Mensch die Welt – in geschichtlich relativ kurzer Zeit – verändert!
All die Versuche, aus egoistischen Interessen, die globalen Herausforderungen, wie Klimawandel, Wassermangel usw., zu verleugnen, werden unseren Kindern und Enkeln teuer zu stehen kommen.

Trotzdem, wie wir aus repräsentativen Erhebungen wissen, haben durchgängig ca. 20-30 % der Bevölkerung noch immer eine rechte Gesinnung. Die seit 2002 durchgeführten „Mitte Studie“ zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland zeigen bevölkerungsrepräsentativ eindeutige Ergebnisse:

  • Es gibt auch 2016 (nach dem Flüchtlingsstrom Richtung Deutschland 2015) keine Zunahme rechtsextremer Einstellungen.
  • Es gibt jedoch eine zunehmende Polarisierung
    – Sie erinnern sich: „wir und die“ –
    und eine Zunahme von Gewaltbereitschaft und Aggressionen gegen Muslime, Sinti, Roma und Asylsuchende.
  • Rechtsextreme haben in der AfD eine Heimat gefunden.

Die rechte Gesinnung wurde jetzt „lediglich“ wieder hoffähig und führte in der politischen Parteienlandschaft zu erdrutschartigen Umbrüchen.
Sich deshalb an rechten Parolen zu orientieren, hätte schlimme Folgen für unser Zusammenleben.

Hier bekommt der >Volkstrauertag< wieder eine ganz aktuelle Bedeutung:
Denn wieder gilt: „Wehret den Anfängen“.
Hier sei an Pastor Martin Niemüller (1890-1984) erinnert, der 1937 im nationalsozialistischen KZ Dachau schrieb:

„Erst kamen sie für die Sozialisten – Und ich habe nichts gesagt,
denn ich war kein Sozialist.
Dann kamen sie für die Gewerkschaftler – Und ich habe nichts gesagt,
denn ich war kein Gewerkschaftler.
Dann kamen sie für die Juden – Und ich habe nichts gesagt,
denn ich war kein Jude.
Dann, kamen sie für mich – Und da gab es keinen Menschen,
der für mich etwas sagen konnte.“

Heute, hier, 80 Jahre danach, erinnere ich daran, dass Frieden, Freiheit, Arbeit, Wohlstand, Bildung und Glück, Abwesenheit von Hunger und eine gute medizinische Versorgung keine Selbstverständlichkeiten sind.  

2016 geben die USA 611 Milliarden, China 215, Russland 69, Saudi Arabien 63 und an 9. Stelle die BRD 41 Milliarden Dollar angeblich für „Verteidigung“ aus.
Für Bildung und Forschung hingegen wurden im Haushalt 2016 in der BRD, die sich ironischerweise „Bildungsgesellschaft“ nennt, lediglich 16,4 Milliarden Euro – weniger als die Hälfte! – ausgewiesen.

Die Aufklärung ab 1700 hoffte, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden. Mittlerweile wissen wir, dass Gefühle und nichtrationale Beweggründe deutlich im Vordergrund menschlicher Entscheidungen stehen.

Da liegt noch viel Arbeit (an uns selbst) vor uns!
Ohne dass wir die Selbstentfremdung überwinden, ohne dass wir mehr Eigenwahrnehmung schulen und damit Raum für Empathie schaffen, wir es wohl so weitergehen, wie gehabt.

Wir könnten dazu auch vorausdenkend Geldflüsse zukunftsorientiert leiten, statt der Gier Raum zu gestatten. Denn heute geht es uns wirtschaftlich sehr gut.

Das war nach dem Krieg anders, als von 1945-50  10,7 Mio. Menschen, also 10mal so viele wie heute, zu uns kamen.
Trotzdem wurde die Integration gemeistert.
Zugegeben, die hatten ähnliche religiöse Hintergründe und ähnliche kulturelle Werte. Und doch waren sich z.B. Katholiken und Protestanten untereinander so wenig grün, dass man untereinander nicht heiraten konnte; dass Waisenkinder in Familien aufgenommen wurden, um sie auf keinen Fall der anderen Religion in die Hände fallen lassen wollte.

Viele Heimatvertriebene kamen auch nach Fellingshausen; von einem Tag auf den anderen waren sie damals da und mussten versorgt und untergebracht werden.
Die Älteren werden sich erinnern, wie schwer es war, als anders zu gelten und nicht dazu zu gehören, eine andere Sprache zu sprechen, andere kulturelle Werte gewohnt zu sein.
Auch heute gibt es bei den Einheimischen das unbehagliche Gefühl: da kommen viele Menschen, die haben wollen, was „ich“ hart erarbeitet habe!
Selbst wenn ich die Gründe der Flucht verstehe, bleibt ein Gefühl der Ungerechtigkeit: Werde ich etwa für meine Leistungen gewürdigt?
Und, …
wurde ich zuletzt nicht schon genug von den Managern, Politikern und Banken betrogen? … nach dem Motto: „Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert“, wie Karl Marx das 1848 ausdrückte.

Selbstverständlich schafft das Unzufriedenheit, die ein Ventil braucht: aber keine Hooligans, Ultras oder Terroristen, kein „dagegen“, …
sondern intelligenter Weise ein konstruktiv streitendes, demokratisches Miteinander, ein überlegtes „wofür“ und „wohin“.
Dabei braucht es immer wieder ein Unterstellen von Wohlwollen und Engagement für das Allgemeinwohl, … das immer auch am egoistischen Interesse des Einzelnen interessiert sein muss …
auch wenn der am Ende im Kompromiss nur einen Teil seiner Wünsche realisiert bekommt. …

Das gilt es auszuhalten! … geht aber nur, wenn man rechtzeitig Frustrationstoleranz erlernt hat.

Egoismus, so erkläre ich das in meiner Praxis immer an meinem Kartoffelacker, den ich in Rodheim hinter dem Haus hatte: „wenn ich egoistischerweise dicke Kartoffeln wollte, musste ich den Boden düngen, die Pflanzen pflegen“. Sytemisch gesehen, kann es mir nur Gutgehen, wenn es meiner Umgebung gut geht.

So ist das auch in der Gemeinde, wie man schön am diesjährigen Brunnenfest in Fellingshausen sehen konnte.

Als Fazit meiner Eindrücke zum >Volkstrauertag<

ist dieses Gedenken und Bedenken ein Tag geworden, der die Sehnsucht nach Frieden und Kooperation zum Ausdruck bringt.
Wenn all die Toten nicht umsonst gestorben sein sollen, gilt es, den Auftrag ernst zu nehmen, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und den nächsten Generationen weiterzugeben.

Das ist, ähnlich wie beim Thema Klimanwandel, nur zu schaffen, wenn wir es zu unserem gemeinsamen Projekt machen.
Denn wenn der andere nicht als Konkurrent um knappe Ressourcen gesehen wird, sondern als Bereicherung durch Zusammentragen von Wissen und Können, …
dann sind wir in unserer Gemeinschaft deutlich besser aufgestellt.
Dann liegt die Aufmerksamkeit nicht auf Missgunst, sondern auf gemeinsamem Mit-gestalten und Zusammenarbeit;
so wie es z.B. die Vereinsgemeinschaft in Fellingshausen in vorbildlicher Form tut und ebenso die vielen Einzelgruppen, die sich in und für unsere Gemeinde engagieren.

Da sind wir ganz nahe an der Ursprungsidee zum >Volkstrauertag<, wo es in den 50er Jahren hieß:
„die Deutschen sollten durch ein gemeinschaftliches Gedenken ihrer Kriegsopfer als Volk zusammenwachsen. Unabhängig von Gesinnung, Religion oder sozialem Status könne hier eine Einheitlichkeit entstehen“.

Heute erscheint die Idee eines „Volkes“ absurd,
denn: wer wollte definieren, wer dazu gehört und wer nicht?
Die meisten Germanen z.B. leben in Polen – das belegen genetische Untersuchungen.
Letztlich lebt Entwicklung durch den Austausch von Genen, wie Ideen.
Inzwischen ist unser Erbgut entschlüsselt; es zeigt, dass die Wiege aller heute lebender Menschen – schwarz, braun, weiß, rot, gelb – in Afrika stand. Unsere Gene zeigen, dass wir alle Brüder sind.

Die Rassenideologie der NS-Diktatur hat sich im Zuge wissenschaftlichen Fortschritts als großer Schwindel entpuppt.
Ebenso ist die Vorstellungen überholt, Konkurrenz sei das wichtigste Überlebensprinzip. 
Dieser Gedanke des „Survival of the fittest“, vom britischen Sozialphilosophen Spencer 1864 formuliert, wurde ja von der NS-Ideologie für sich funktionalisiert.
Heute wissen wir: schon Kleinstkinder kooperieren und lassen sich von uneigennützigen Impulsen leiten; … bis mehr und mehr kulturelle Prägungen Raum greifen und die Resonanz- und Bindungserfahrungen im Miteinander weniger werden.
Das bestätig sich in erschreckender Weise, wenn man hört, dass Kinder ca. 400 mal / Tag Lächeln und LachenErwachsene dagegen nur noch ca. 15 mal.
Dabei ist Lachen außerordentlich Gesund; wie alles, was in Bewegung ist; während alles Erstarrte und Chronische schwerste Krankheiten oder – auf gesellschaftlicher Ebene – Konflikte nach sich zieht.

Die meisten von uns haben nie so etwas schreckliches, wie Krieg, Hunger, Vertreibung usw., erlebt; …
aber auch nicht die enge Kameradschaft und Verbundenheit, die in der Not geboren wird: man ist aufeinander angewiesen … und spürt dies leibhaftig.
An der Bushaltestelle vor unserer Grundschule steht: „Jeder hilft jedem“.  …
Das ist wichtig und gut zu lesen, … am besten jeden Tag!
Und dennoch erreichten wir Zäune und pflegen den Individualismus; und spüren bedrückende Einsamkeit.
So hat mit wachsendem Wohlstand die Zufriedenheit in unserem Lande seit 1945 kontinuierlich abgenommen.
Glück ist offensichtlich nicht an Wohlstand gebunden.

Denn kein materieller Wohlstand und kein staatliches Sicherungssystem kann das Erleben von echter Beziehung und Sicherheit in der Gruppe ersetzen; … weil Bindung evolutionär mit besseren Überlebenschancen verknüpft ist.
Daher kann man Kinder auch nicht mit Zuwendung oder Berührung verwöhnen, wie man das Anfang des 20. Jahrhunderts dachte … und damit folgsame Soldaten produzierte.
Allerdings darf man auch nicht versäumen, Grenzen und Regeln aufzuzeigen, da sowohl Schutz (Begrenzung in realer Gefahr) wie Trost (regelhaft zu erwarten, bei echtem Bedarf, wenn das Kind sich nicht selbst zu ordnen und zu beruhigen weiß) wesentlich sind für ein funktionierendes „Ich“, das sich in eine Gemeinschaft integrieren kann.
Zentral dafür ist realer, wiederholter, zuverlässiger Kontakt, nicht medialer per „what´s app-Nabelschnur“ oder „Tablet-Schnuller“.
Viele Gehirnzellen reagieren nicht einmal auf zweidimensionale Bilder; viele bewegte Bilder können nur mit Vorwissen verstanden und verdaut werden. ADHS und Co., wie auch allergische Reaktionen, nehmen also nicht ohne Grund zu.
Ebenso sterben heute weit, weit mehr Menschen an Fehlernährung, Übergewicht und seinen Folgen, an Krebs, Unfällen, Medikamenten- und Drogenkonsum, Depression oder Krankenhauskeimen, als durch Terroristen oder Rinderwahnsinn.
Statistisch ist es eben so, dass Seltenes selten ist und Häufiges häufig.

Wir leben hierzulande an einem der sichersten Orte der Welt – auch wenn die Medien uns anderes suggerieren.
Wir sollten also unsere Kraft da investieren, wo es Sinn macht:
Zukunft braucht Zuwendung und Investitionen dort, wo das Leben weitergeht – bei unseren Kindern.
Die wiederum brauchen weise und fähige Erwachsene.
Um das zu erreichen braucht es vielfältigen Austausch, Reflektion, Rückmeldungen und immer wieder: die eigen Entwicklung.
Denn nur auf uns selbst lässt sich zuverlässig Einfluss nehmen;
allerdings können wir einladen und teilen; …
das macht sogar glücklich, wie die Glücksforschung zu berichten weiß.

Es gibt also viele hinreichend Gründe, Angst oder Hoffnung und liebevolle Zuwendung zu entwickeln; zu gedenken und zu bedenken:
Letztlich bleibt es unsere eigen Entscheidung, wovon wir uns leiten lassen, wo wir hinschauen, welche Haltung wir einnehmen, was wir interpretieren und welche Bedeutung wir geben.

Ein Zurück in der Zeit gibt es nur in der Phantasie;
es gibt aber die Wahl, sich verantwortlich im Rahmen seines Wissens und seiner Möglichkeiten, jeder an seinem Ort, zu engagieren; Hass und Misstrauen entgegenzutreten und gut für sich zu sorgen, indem jeder das Gemeinwohl stärkt.
Zeit hat jeder jeden Tag 24 Stunden. Es ist eine Frage der Prioritäten, wohin die Aufmerksamkeit geht und welches Erleben wir damit erzeugen.
Fangen wir nicht im Kleinen an, kann kein Schneeballeffekt im Großen wirken.

„Wir haben nur die Welt, die wir gemeinsam mit anderen hervorbringen.“ Maturana und Varela (1984)

Wir sollten also wieder, wie hier und heutemehr Zeit darauf verwenden, einander kennen zu lernen, Geschichten zu erzählen, Fragen zu stellen und zu beantwortet, etwas zusammen zu tun und zu bewegen … und uns der Wechselwirkungen bewusst zu werden, …
(wie z.B. in dem friedvollen Miteinander Ihrer Hände, die Ihnen vielleicht erst jetzt wieder bewusst werden und mit einem freundlichen Verabschieden nach links und rechts losgelassen werden können)
statt in platten „entweder-oder“-Ursache-Wirkungs-Schuld-Zusammenhängen zu denken.  
Dann sieht die Welt anders aus, … bunter, erwachsener.
Gelassener bieten dann Beziehungen und Vertrauen echten Schutz.

Mir jedenfalls scheint, dass in konstruktiven Auseinandersetzungen, im Geben und Nehmen, im Teilen und Mit-teilen unsere menschlichen Stärken liegen.

Ich wünsche Ihnen allen viel davon; herzlichen Dank.

Dr. med. Alfons Lindemann
Stellvertretender Ortsvorsteher

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