Margret Lindemann löst sehr gerne Kreuzworträtsel. Das Foto entstand am 16. Dezember 2023.
* Aufgrund unseres Artikels erfuhren wir von Tochter und Enkelin, dass nicht Frau Lindemann die älteste Einwohnerin Fellingshausens ist, sondern vermutlich Edeltraut Galinski, die sogar in Fellingshausen am 06. Januar 1924 geboren wurde und damit zum Fest der Heiligen 3 Könige in diesem Jahr – wie die Enkelin postete – „zarte 99 Jahre alt wird“.
Wir stellen das gerne richtig, aber nähere Informationen – außer „4. älteste Einwohnerin Biebetals“ – waren aus Datenschutzgründen von der Gemeindeverwaltung nicht zu erhalten.
Die Veröffentlichung obiger Infos hat die Tochter autorisiert.
Am 5. Januar brachte inzwischen die Gießener Allgemeine zu Edeltraut Galinski einen Bericht.
Der oder die älteste Einwohner/in Biebertals soll, wie wir inzwischen aus anderer Quelle erfuhren, in diesem Jahr den 105. Geburtstag feiern.
Nun zum ursprünglichen Artikel:
Als Autorin dieses Beitrages hatte ich die Gelegenheit, mich mit der Jubilarin länger zu unterhalten.
Margret Lindemann ist nämlich meine Nachbarin. Ihre Erinnerungen an ihr langes Leben erscheinen mir wertvoll, sie festzuhalten und hier im Biebertaler-Bilderbogen zu veröffentlichen.
Margret und ihr Mann zogen erst 2005 nach Biebertal und 2011 nach Fellingshausen. Das ist das wohl der Grund, warum sie nur wenigen Fellingshäusern bekannt ist. Außerdem lebt sie sehr zurückgezogen. Aber es ist recht mutig, im Alter von 79 und 80 Jahren noch den Wohnort zu wechseln. In Düsseldorf, wo sie 50 Jahre mit ihrem Mann Franz gelebt hat, waren schon viele Freunde verstorben; da wurde es einsam in der Großstadt. So lag es nahe, zur Familie des Sohnes zu ziehen, wo sie zuvor schon oft in der Weingartenstr. in Vetzberg und in der Nußhecke in Rodheim bauen und pflegen geholfen hatten. Margret und Franz bewohnten nach ihrer Ankunft hier eine kleine Wohnung in der Hauptstraße von Bieber. Als Sohn und Schwiegertochter dann das Haus im Bauroth in Fellingshausen gekauft hatten, bekamen die beiden die Einliegerwohnung, wo an schönen Tagen von mittags bis abends die Sonne ins Wohnzimmer scheint und wo die beiden auf der Veranda zusammen in der Hollywoodschaukel sitzen konnten.
Margret Lindemann wurde am 31. Dezember 1926 in Warburg/Westfalen geboren. Das liegt nur 7km von der hessischen Grenze entfernt. Ihre Mutter war Hausfrau. Zudem nähte sie daheim. Ihr Vater war Schmied, Klempner und an Festtagen Kellner im großen Zelt auf der Festwiese. Er arbeitete viel in den Nachbarorten. Dahin war er meistens zu Fuß unterwegs. Fürs Fahrrad – so man eines hatte, waren die schlechten Straßen ungeeignet. Über Gefühle, Sorgen, Entwicklungen, wie z. B. ein sich ankündigendes Nesthäkchen in der Familie, Berufliches usw. wurde damals mit Kindern nicht gesprochen. Margret hatte zwei Brüder und eine Schwester, die inzwischen verstorben sind.
Erinnerungen an Kindheit und Jugend
Margret erinnert sich an viele Lieder und damals übliche Spiele draußen, wie z.B. Seilspringen, Hüpfen in Kästchen, Prellball und Knicker (Murmeln). Hüpfen und Knicker konnte man überall spielen, die Kästchen oder das Loch wurden in den Lehm gemacht. Die Familie hatte zwei Gärten, hielt 1Schwein, 1 Ziege und Hühner; auch das war üblich. Die Kinder tranken die Ziegenmilch gerne. Aber erst verheiratet, im Haus der Schwiegereltern, hat sie notgedrungen auch das Melken gelernt, da die Schwiegermutter die Aufgabe gerne abgetreten hat. Zur Selbstversorgung gab es auch dort einen großen Garten, aber auch einen Getreideacker, eine Wiese, ein Rüben- und ein Kartoffelfeld. Dorthin wurde z.T. eine Stunde weit zu Fuß gegangen. Werkzeuge oder Ernte wurden mit dem Handwagen transportiert.
Im Winter war es in den Schlafräumen sehr kalt, jeden Winter waren morgens Eisblumen am Fenster. Denn meist wurde nur ein Raum geheizt. Daher nahm man eine warme, mit heißem Wasser gefüllte Steinhäger-flasche (Schnapsflasche aus Ton; im Bild links) mit ins Bett, anstelle der heutigen Gummiwärmflaschen.
Schöne Erinnerungen gibt es auch an wunderschöne Fronleichnamsprozessionen durch Warburg, bei denen die Anwohner auf den Straßen Blütenteppiche ausgelegt und prunkvolle Altäre vor ihren Häusern in den Straßen aufgebaut haben.
Margret besuchte die Volksschule, die damals mit der 8. Klasse abschloss. Das war 1941, und sie musste bald ihr einjähriges „Pflichtjahr“ bei der Familie eines „höheren“ Beamten mit vier kleinen Mädchen leisten. Das hieß, alle Haushaltsarbeiten und Kinderbetreuung von 8 bis 20 Uhr an 7 Tagen für 10 Mark im Monat, wobei Krankheitstage vom Lohn abgezogen wurden.
Nach diesem Jahr ging sie zur Handelsschule. Ab 1944 bis zum Ende des Krieges war Margret Lindemann Flakhelferin in Magdeburg. Dort bedienten die Mädchen Scheinwerfer, um den Himmel nach Bombern abzusuchen, die Kurs auf Berlin nahmen. Die Stellung wurde einmal bombardiert, wobei glücklicherweise niemand verletzt wurde.
Nach dem 8. Mai 1945 machten sich die jungen Frauen zu Fuß auf den Weg nach Hause. Übernachtet wurde in Scheunen oder Schulen, deren Räume zum Teil mit Stroh ausgelegt waren. Für die etwa 220 km lange Strecke brauchte sie vier Wochen, denn im großen Durcheinander der Tage nach dem Krieg musste man besonders vorsichtig sein.
Ein paar Soldaten gingen in gleicher Richtung, aber schneller. Sie informierten wirklich die Eltern, dass die Tochter unterwegs sei. Vater und Bruder fuhren ihr mit einem geliehenen Auto entgegen und fanden sie tatsächlich nach zweitägiger Suche in einem Bauernhaus einige Tagesmärsche von zu Hause entfernt.
Das Erwachsenenleben, Ehe und Familie
Margret arbeitete bis zu ihrer Eheschließung im Büro eines Landmaschinenhandels. Ihren zukünftigen Mann Franz hatte sie gelegentlich gesehen, wenn er zu seiner Lehrstelle als Einzelhandelskaufmann bei „Proppe“ an ihrem Elternhaus vorbei ging. So registrierte sie auch, dass er aus der Gefangenschaft zurück war. Richtig kennengelernt haben sie sich bei einem Tanzkurs. 1950 wurde geheiratet. Daraufhin zog das junge Paar zu den Schwiegereltern in das wenige Kilometer entfernte Welda. Hier verbrachte auch der 1951 geborene Sohn Alfons seine frühe Kindheit. Der Ehemann Franz arbeitete wie sein Vater, der Rottenführer (= Vorarbeiter bei der Gleisinstandsetzung) war, bei der Deutschen Bundesbahn in der Rotte, später als Schaffner und Zugführer. Als Beamter musste er sich dahin versetzen lassen, wo die Bahn Leute brauchte. So kam die junge Familie nach Düsseldorf, wo sie in der Nähe des Hauptbahnhofs wohnten. In Düsseldorf wurde 1956 die Tochter Ursula geboren. Die Familie hatte einen Kleingarten am Stadtrand nahe dem Grafenberger Wald, etwa eine Stunde Fußmarsch entfernt. Bei Sonntagsspaziergängen hieß es oft, Sprudel oder Eis auf dem Weg oder Straßenbahn fahren. Daher wurden die meisten Wege auf Schusters Rappen absolviert. Die Eheleute gehörten dem Eisenbahner-Fahr-Verein an, dem Franz lange vorstand. Hier wurde regelmäßig gekegelt – in einer Kegelbahn für Eisenbahner direkt im Hauptbahnhof. Viele der ursprünglich Fremden in der Stadt feierten da gemeinsam Weihnachten und natürlich den Düsseldorfer Karneval.
In den Schulferien wurden meistens die Großeltern besucht (und auf dem Feld gearbeitet). Als die Kinder größer waren und das Ehepaar allein reisen konnte, war Mallorca das erklärte Lieblingsziel, das ebenfalls meist zu Fuß erkundet wurde. Ab und zu begleitete Frau Lindemann ihren Franz auch auf Bahnfahrten z.B. bis hin nach Österreich. Man konnte in den Eisenbahnunterkünften übernachten. Das Geld war zu der Zeit eher knapp; aber es gab jedes Jahr für die Eisenbahner ein paar Freifahrtscheine. Noch letztes Jahr war sie (Bild unten) mit zu einem Familienausflug in Holland und kletterte über die Dünen, um das Meer zu sehen.
Familienausflug an die holländische Nordsee
Dekoration zum 95. Geburtstag 2021
Ich habe Frau Lindemann gefragt, was sie denn für Wünsche an ihr Leben gehabt hätte. Darauf blieb sie die Antwort schuldig. Ihr Sohn wunderte sich darüber nicht; seine Mutter sei schon immer eine sehr zufriedene Frau gewesen.
Unterstützung der Kinder
Gerne hätte sie ihren Sohn als Bankdirektor gesehen, wie ihren Bruder, der auch in Düsseldorf lebte … und später in der Rureifel ein Haus hatte (in Vossenack, wo meine Tochter seit 2015 lebt). Immerhin hat er eine abgeschlossene Lehre als Bankkaufmann; hat es bis zum Innenleiter einer Filiale geschafft; aber Direktor wurde er nicht.
Seine Eltern hätten ihre Kinder aber immer bei all ihren eigenen Plänen unterstützt, selbst als der Sohn die sichere Stellung in der Bank aufgab, um wieder die Schulbank zu drücken, oder wenn während der Bundeswehrzeit in Norddeutschland ein Auto her musste, um Wochenendbesuche zu ermöglichen, wenn Umzüge anstanden oder eine Kindergruppe im Haus in Heuchelheim eingerichtet wurde oder mal wieder ein Haus umgebaut oder renoviert werden sollte; oder als die Schwester früh nach Berlin zog, um dort als Kindergärtnerin zu arbeiten, später Psychologie studierte und dort blieb.
Franz und Margret Lindemann halfen den Kindern, wie auch Kollegen, oft bei Renovierungsarbeiten. Margret nähte und häkelte gerne. So waren eine Zeit lang die Gardinen in der Kita „Sternschnuppe“ in der Alten Schule in Rodheim ihr Werk. Ihre beiden Enkel Hannes und Lukas konnten die Eheleute bei Besuchen oft miterleben und nach dem Umzug nach Biebertal besuchten die Jugendlichen die Großeltern, bevor sie den Ort zum Studium verließen. Inzwischen sind Lukas und Hannes verheiratet und haben selber jeweils zwei Töchter. Auch wenn sich das während der Schulzeit nie abzeichnete und es ursprünglich ganz andere Pläne gab, sind die beiden inzwischen als Ärzte im Einsatz.
Die Urenkelinnen konnte Franz Lindemann nicht mehr kennenlernen, da er 2015 verstarb.
Links Margret Lindemann, beide Enkel mit Ehefrauen, drei von vier Urenkelinnen und Schwiegertochter Barbara
Hobbies und geliebte Beschäftigungen
Aufgefallen war mir unsere Nachbarin gleich nach meinem eigenen Umzug nach Biebertal 2011 durch ihre regelmäßige, emsige Gartenarbeit. Man sah ihr an, dass sie das freudig tat. Sie backte auch recht gerne. Sehr beliebt bei Kindern und Enkeln waren ihre Waffelröllchen, von der immer eine gefüllte blecherne Kiste auf dem Schrank stand. Aber auch Spritzgebäck und Nußkuchen waren meist zu finden.
Ich habe ein Rezept von ihr für Zimtwaffeln, die ich auf meinem Eiserkuchen-Eisen backen kann. Sie müssen sofort heiß gerollt werden
Außer den Kreuzworträtseln, früher dem Canastaspielen, liebt Margret Lindemann das Puzzeln. Das sind meist welche mit 1000 Teilen. Zwölf verschiedene hat sie. Nach der Fertigstellung der Bilder werden zusammenhängende Stücke in verschiedene Tüten eingeordnet. Dann lässt sich leichter puzzeln, wenn sie das Puzzle später noch einmal zusammensetzt.
Ein fast heimliches Talent von ihr ist, auf Familienfeiern regelmäßig schöne Reden in Gedichtform zu halten.
Eine andere Besonderheit darf hier auch auf keinen Fall vergessen werden: Seit über 70 Jahren schreibt Margret Lindemann auf, was sie erlebt hat; mal täglich, mal in längeren Abständen. Bereits als sie damit begann – zuerst in einem Poesie-Album, später auf losen Blätter, die sie in einen Ordner heftet -, stets verzierte sie den Text mit zur Jahreszeit oder zum Anlass passenden Bildern aus Illustrierten und später mit Fotos. Und das macht sie bis heute. Überhaupt war sie bis noch vor kurzem völlig selbständig in ihrem Haushalt. Inzwischen ist es die Schwiegertochter Barbara, die den großen Überblick übernommen hat und tatkräftig unterstützt.
Zum Abschluss soll hier noch ein selbst geschriebenes Gedicht, ein besonderes – passend zur Jahreszeit – vorgestellt werden; denn bei dem hier abgedruckten Weihnachtsgedicht ging die Seniorin noch einmal neue Wege: sie schrieb es 2019 nämlich erstmals mit dem Computer. Schreibmaschine hatte sie ja 70 Jahre zuvor gelernt:
Das Weihnachtsgedicht
Heute habe ich gedacht,
ich habe doch schon mal zu Weihnachten ein Gedicht gemacht?
Mir fiel es wieder ein, irgendwo müsste eins wohl sein.
Wenn es in meinem Kopfe sich nicht sogleich stellt ein,
wird es wohl in den gesammelten Aufzeichnungen zu finden sein.
Gesucht, gemacht, getan,
irgendwie komme ich schon dran!
In meinen Büchern fand ich es wieder,
2012 schrieb ich es nieder.
Der Text ist wie für heute gemacht,
auch wenn ich es damals schon gedacht:
noch heute sage ich: es ist wunderbar,
wenn die ganze Familie ist da.
Niemand ist allein,
wenn Kinder, Enkel und Urenkel kommen herein.
Ja, wenn unter dem Baum die Kinderaugen leuchten,
sich vor Freude schnell die eigenen befeuchten.
Ja, unter dem Weihnachtsbaum, das wäre fein,
möchte ich immer wieder sein!
Text: Margret Lindemann, 8.12.2019 – 23 Tage vor dem 93. Geburtstag, erster Versuch am PC
Bei Freunden und Verwandten wird die Seniorin so eingeschätzt:
Sie hat immer gute Laune, ist genügsam, zufrieden, immer freundlich, fleißig und hilfsbereit.
Der Biebertaler-Bilderbogen gratuliert von Herzen zum 97. Geburtstag und wünscht ihr weiterhin eine stabile Gesundheit und noch eine Reihe guter Lebensjahre!
Foto vom 16.12.23: Eveline Renell, die anderen Fotos: Lindemann bzw. die Steinhäger-Flasche aus der Werbung, der Prozessionsweg aus dem Internet
Anhang:
Der Biebertaler-Bilderbogen hätte gerne Kontakt zu den Ältesten und Älteren auch der anderen Dörfer!
Es macht Freude, sich ihr Leben erzählen zu lassen. Im Bilderbogen gehen solche Erinnerungen nicht verloren.